Als die deutschen Ausgräber gerade die Geheimgänge des Orakelheiligtums entdeckt hatten, wurde der
Bruder eines Adjutanten des Sultans entführt.
Wiegand wollte seine Frau nicht unnötig ängstigen, als er in seinen Briefen von »vielen Störungen«
sprach. In Wirklichkeit waren die Ausgrabungen in der Türkei inzwischen zu einem lebensgefährlichen Unternehmen
geworden. Am Bosporus herrschten zu Beginn des 20. Jahrhunderts katastrophale Zustände. Nach dem offiziellen
Staatsbankrott versuchten die Jungtürken, eine national-türkische Reformpartei, den Sultan zu stürzen.
Das soziale Elend war groß, Reiche und Ausländer lebten gefährlich; dabei genügte es, wenn
einer nur reich oder fremdländisch aussah.
Der deutsche Grabungsleiter Theodor Wiegand wurde lange Zeit von einem bekannten Wegelagerer verfolgt, der, wie
es schien, nur die Gelegenheit abwartete, daß ihm sein Opfer einmal unbewaffnet begegnete. Die tagtäglichen
Schreckensnachrichten waren jedoch für Wiegand und die deutschen Ausgräber eine stete Erinnerung, keinen
Schritt ohne Gewehr zu tun. Raub, Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung. Wurde ein Räuber allerdings
gefaßt, dann lynchte ihn die Menge.
Wiegand sah in der Kreishauptstadt Sokia, dem heutigen Söke, den Kopf eines 18jährigen auf einer Stange,
er hatte seinen Lebensunterhalt als Wegelagerer bestritten und war, als er sein Tätigkeitsfeld wechselte,
von eigenen Stammesgenossen geköpft worden. Georgios Kjolafis, ein einheimischer Grabungsarbeiter, der den
Archäologen vor allem bei der Aufnahme kartographischer Skizzen zur Seite gestanden hatte, wurde eines Vormittags
tot aufgefunden. Er war das Opfer einer Räuberbande geworden.
Der gefürchtetste Räuberhauptmann dieser Gegend war Mohammad Tschakidji, der mit 30 finsteren Gestalten
durch die Gegend vagabundierte und die Provinz Aidin das Fürchten lehrte. Tschakidji stammte aus Aidin. Schon
sein Vater war Wegelagerer, der starb 18jährig bei einem Gefecht mit Gendarmen. Mohammad schwor Rache. In
den 47 Jahren seines aufregenden Räuberlebens schröpfte er die Reichen, überfiel mit Vorliebe Regierungskassen
und entführte Politiker und Militärs. Damals, als die deutschen Ausgräber gerade die Geheimgänge
des Orakelheiligtums entdeckt hatten, mußte der Bruder eines Adjutanten des Sultans daran glauben. Tschakidji
hatte ihn am hellichten Tag aus der Moschee entführt.
Solche Kabinettstückchen machten ihn beim Volk allmählich zum Helden. Mohammad gefiel sich in seiner
Rolle und nahm immer mehr die Züge eines türkischen Robin Hood an. Tschakidji zwang einen reichen Bauunternehmer,
für arme Gebirgsbewohner eine Brücke zu bauen, und wenn sich einer seiner Kumpane an einem Armen vergriff,
machte er ihn persönlich einen Kopf kürzer. Der Wali von Smyrna, (heute Izmir) der Statthalter der Provinz,
setzte schließlich die astronomische Summe von 1000 Pfund auf den Kopf des Tschakidji aus. Tschakidji hörte
das und setzte seinerseits 1500 Pfund auf den Kopf des Wali aus. Schließlich rekrutierte die Regierung 700
Räuber, bezahlte sie fürstlich und gab den Auftrag, Mohammad Tschadkidji zu töten. 300 bezahlten
dieses Vorhaben mit dem Leben, der Rest gab auf. 1911 geriet Tschakidji in einen Hinterhalt, er und seine Männer
kämpften drei Tage verbissen, dann gelang ihnen die Flucht. Zurück blieb nur ein bis zur Unkenntlichkeit
verstümmelter Leichnam; seit jenen Tagen hat man nie mehr etwas von Mohammad Tschakidji gehört.
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So gefährlich war das Leben der deutschen Ausgräber noch zu Beginn dieses Jahrhunderts.
Diese Aufgabe erforderte viel mehr als akademische Kenntnisse, die Männer, die Didyma und sein Orakelheiligtum
ausgruben, mußten schon von ihrer Idee besessen sein, diesen geheimnisumwitterten Ort der Gegenwart zurückzugeben.
Wie anders wäre es denkbar, daß sie - für jeden von ihnen stand ein Schreibtisch mit Pensionsberechtigung
bereit - höchste Entbehrungen auf sich nahmen und abseits der Zivilisation einer Idee nachgingen, die in diesen
unruhigen Zeiten geradezu anachronistisch erscheinen mußte.
aus: "Das Geheimnis der Orakel" v. Philipp Vandenberg"
erschienen als Taschenbuch bei Bastei-Lübbe
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