Didyma - Orakelstätte der Antike
Wenn Wiegand nicht gewesen wäre


Am Anfang steht ein Name: Theodor Wiegand. Er stammte aus Bendorf am Rhein, ging aber in Wiesbaden zur Schule, wo sein Vater, ein Kurarzt und Morphinist, ein geselliges Leben feierte. Jung Theodor war ein schlechter Schüler und obendrein eine »Pestbeule der Anstalt« - so sein Direktor. Es reichte gerade zum Studium, erst Kunstgeschichte, anschließend Archäologie, dann saß er - genau wie Klaus Tuchelt - erst einmal da.
Mit einem Stipendium bereiste er Griechenland, bis ihn Karl Humann, der damals ungewöhnlich populäre Ausgräber von Pergamon, als Assistenten für die Freilegung der antiken Stadt Priene, südlich von Ephesus, anstellte. Doch Humann starb kurz danach, und Wiegand wurde über Nacht Leiter des Projektes, er war gerade 31 Jahre alt. Das war 1895.

"Didyma, fernab ohne Straße, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein rechtes Abenteuer. Vermoort, von Mücken umschwirrt und oft nur mit nassen Füßen zu erreichen"

In den folgenden vier Jahren grub Wiegand große Teile von Priene aus. Bei einem Ritt nach Akköy kam ihm die Idee, »die da drüben schlafende Millionenstadt zu neuem Leben aufzurütteln«. Wiegand meinte Milet. Gesagt, getan. Er war ein Mann schneller Entschlüsse und ließ ein auf einer Anhöhe stehendes Haus mit rotem Dach und grüner Veranda als neues Hauptquartier einrichten. Am 3. Oktober 1899 kam der deutsche Botschafter in der Türkei, Freiherr Marschall von Bieberstein, um mit einem Hoch auf den Kaiser den feierlichen ersten Spatenstich zu tun.

Schon in den allerersten Tagen hatte die berühmte Heilige Straße nach Didyma Theodor Wiegands besonderes Interesse erregt. Didyma war für ihn ein Zauberwort, das uralte Orakel mit seiner Quelle, an der angeblich die schöne Leto mit Zeus ein Schäferstündchen verbrachte, dem dann Artemis und Apollon, die Zwillinge (griechisch: didymoi) entsprossen, all das wirkte erregend auf den deutschen Archäologen.

Aber in Didyma waren Franzosen am Werk, so stürzte er sich mit Verbissenheit auf seine Arbeit in Milet. Kaum hatte Wiegand jedoch erfahren, daß die Franzosen aufgegeben hatten, da eilte er nach Didyma, um sich sein eigenes Bild zu machen. In einem Brief nach Deutschland schrieb er am 8. März 1897: »Von Didyma hatten wir einen bedeutenden Eindruck. Aber ungeheure Kosten ohne entsprechenden Ertrag an Funden. Das halbe Dorf muß demontiert werden. Die Grube ist über acht Meter tief, die Blöcke so gewaltig, daß sich die Franzosen mit Pulversprengungen (!) geholfen haben, da sie die nötigen Hebemaschinen nicht bei sich hatten.«

Obwohl die Franzosen nicht weitergruben, scheiterten die Verhandlungen mit ihnen zunächst. Schließlich einigte sich Wiegand mit dem Leiter der Ecole Française in Athen, Theophile Homolle, auf die Übernahme der Grabungen, und im Frühjahr 1904 begann er mit dem Ankauf von Grund und Boden in Didyma. Er gab tausend türkische Pfund aus, kaufte allerdings zu einem billigeren Quadratmeterpreis als die Franzosen wenige Jahre zuvor. Drei Tage dauerte der Landhandel, dann waren die Weichen für die neuen Ausgrabungen in Didyma gestellt. Stolz schrieb Wiegand seiner Frau nach Deutschland: »Ich bin jetzt in Didyma etwa zwölffacher Hausbesitzer, habe ca. zehn Viehställe, drei Kaffeehäuser, eine Schusterwerkstatt und mehrere Backöfen sowie zwei flott gehende Kramläden und eine verfallene Moschee, vor allem aber fühle ich mich stolz als Windmüller.«

Didyma, fernab ohne Straße, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein rechtes Abenteuer. Von Norden her, von der nächsten Bahnstation oder dem nächsten Hafen, war es, wollte man sich tagelange Umwege ersparen, nur mit nassen Füßen zu erreichen. Die Ursache war die vermoorte Mäander-Ebene, die der eigenwillige Fluß seit dem Altertum angeschwemmt hatte. Wo heute die Dammstraße durch die trockengelegte Ebene nach Didyma führt, war zu Wiegands Zeiten Sumpf. Nicht selten blieben die Pferdewagen stecken, dann mußten die Passagiere zu Fuß weiter. Wiegand erinnerte sich mit Schrecken an einen Vorfall im Jahre 1904, als er bis zu den Hüften im vermoorten Boden, bei jedem ungewissen Schritt Hunderte von Mücken aufscheuchend, mit den Armen brühwarmen Wassertang beiseite drängend, zwei Kilometer in Richtung Didyma watete.

Etwa 20 Häuser lagen zu Beginn der Grabungen am 11. Mai 1905 auf dem Areal des antiken Orakelheiligtums in Trümmern. Nur eines störte noch, das des reichen Bauern Leonidas; er verlangte mehr Geld für seinen Hof, als Wiegand zu zahlen bereit war; so beschloß der Ausgräber erst einmal, drum herum zu graben. Irgendwann, so hoffte er, würde Leonidas schon die Lust verlieren, auf einer Insel in-mitten von Trümmern zu leben. Wie schon in Milet, erfolgte der erste Spatenstich unter patriotischen Vorzeichen und mit Werkzeug, das die Franzosen hinterlassen hatten. Die Häuser waren mit grünen Zweigen geschmückt. Der Schullehrer ließ den deutschen Kaiser, der deutsche Botschafter den Sultan hochleben, dann gab es ein festliches Frühstück auf der »Loreley«, dem Schiff, mit dem Botschafter Marschall von Bieberstein angereist war.

Die deutschen Ausgräber waren nicht unbeliebt in Didyma. Den meist armen Bauern kam die Neuansiedlung des Dorfes gelegen. Es dauerte kein halbes Jahr, da verkaufte auch Leonidas sein Anwesen, er bekam 675 Pfund
und war damit gut bedient. Wiegand kümmerte sich persönlich um den korrekten Ablauf der Umsiedlung. Ein Bauer, der zu Beginn des Winters zwar ein neues Haus, aber noch keinen Stall hatte, gewann das Mitgefühl des Grabungsleiters, als es um die Unterbringung seines einzi-gen Pferdes ging. Doch der Bauer beruhigte den Gelehrten: »Abends holen wir es herein in die Wohnhütte, das scha-det nichts, im Gegenteil, das Pferd hilft im Winter heizen.«

Allmählich machte sich bei den Dorfbewohnern jedoch Geschäftssinn breit. Die anatolischen Bauern ließen sich alsbald jeden Handgriff in klingender Münze honorieren. Der skrupellose Bürgermeister zettelte sogar eine Dorfintrige an, der ein Kind zum Opfer fallen sollte. Wiegand hatte 300 Meter Schienen und 13 Kippmulden auf Kamelen nach Didyma transportiert, um dem gewaltigen Anfall von Schutt Herr zu werden. Doch der Bürgermeister forderte für die Aufstellung eine Lizenzgebühr. Wiegand weigerte sich zu zahlen. Da führte der Dorfschulze die Kinder ins Feld, sie sollten auf den Geleisen herumtollen und einen Unfall provozieren, daraufhin würde die Kleinbahn verbo-ten werden. Der Bischof von Skia, ein persönlicher Freund Wiegands, brachte den Bürgermeister zur Räson. Am 14. September 1906 schrieb der Grabungsleiter von Didyma an seine Frau: »Seit zwei Tagen bin ich nun an der Quelle und am Tempel der Weissagung und wäre ganz dankbar, wenn das Orakel mir sagen könnte, ob ich mit meinen Bauern von Jeronda (der alte Name des Dorfes) fertig werde oder nicht.«


Das Orakelheiligtum kommt zum Vorschein

Die Arbeiten in Didyma gingen zäh voran. Etwa 50 Männer standen unter der Leitung des Architekten Hubert Knackfuß. Wiegand pendelte ständig zwischen Didyma
und Milet hin und her, wo nochmals 70 Grabungsarbeiter beschäftigt waren. »Aber gebrauchen«, sagte Wiegand, »könnte ich 400.« Angesichts des kilometerweiten Areals waren die Deutschen wie ihre Vorgänger oft nahe daran zu verzweifeln. Mut machten jedoch die zahlreichen zum Vorschein kommenden Inschriften, die sich auf die Errichtung des Apollon-Tempels bezogen. Das war nur allzu nötig; denn je mehr von dem riesigen Tempel sichtbar wurde, desto unruhiger wurden die Archäologen.

Nicht die gewaltigen Ausmaße stürzten die Ausgräber in Ratlosigkeit, es war vor allem die ungewöhnliche Anlage des Bauwerkes, für das es, wie immer deutlicher wurde, keinen vergleichbaren Grundriß gab. Hinzu kam, daß auch in diesem Orakelheiligtum verschiedene Kulturschichten übereinanderlagen.

Der älteste Tempel stammte aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., ein archaischer Bau war 540 - 520 errichtet worden, er wurde 494 von den Persern zerstört. Sogar das kostbare Götterbild des Apollon hatten die Barbaren damals mitgenommen. Um die Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert hatten die Jonier mit dem Bau eines hellenistischen Orakeltempels begonnen.
In Urkunden wird ein gewisser Paionios als Architekt genannt, der auch für eines der sieben Weltwunder, den heute total abgetragenen Artemis-Tempel von Ephesus, verantwortlich zeichnete. Daher wohl auch die monumentalen Ausmaße von Didyma. Sie machten die Hinzuziehung eines Kompagnons notwendig: Paionios teilte sich den Auftrag mit dem Baumeister Daphnis aus Milet.

Im Prinzip übernahmen beide die archaische Grundrißidee: Ein winziges Tempelchen mit einem Götterbild, die eigentliche Wahrsagestätte, davor ein heiliger Lorbeerstrauch und die heilige, inspirierende Quelle wurden eingerahmt von einem monumentalen Mauerwerk, auf dem 122 jonische Säulen, 25 Meter hoch, zu einem Tempel mit ägyptischen Ausmaßen in den Himmel wuchsen. Dieser Überbau hatte kein Dach, das Innere war Sonne und Regen und dem anatolischen Winter ausgesetzt.

Anders als in Delphi durften die Orakelklienten in Didyma das Tempelinnere nicht betreten. Ihr Weg endete im Pronaos, einer Vorhalle mit zwölf Säulen, in der sie einzeln zur Entgegennahme des Orakelspruches aufgerufen wurden. Mit dem anschließenden Zweisäulenraum legten die Archäologen den architektonisch interessantesten Bauteil frei. Wochen vergingen, bis Knackfuß und Wiegand die Suche nach einer Treppe auf gaben, die zu einem Portal führen sollte, dessen Schwelle eineinhalb Meter über dem Bodenniveau lag. Doch es gab keine solche Treppe; denn in diesem fünfeinhalb Meter hohen Portal, zu dem der Klient nach oben blicken mußte, erschien der Orakelpriester und verkündete den Wartenden den lange ersehnten Spruch.

Heute genauso wie vor 2400 Jahren ist die zum Himmel offene Tempelarchitektur der ideale Nistplatz für Vögel verschiedenster Provenienz. Ihr Zirpen hallt von den kahlen Tempelwänden wider, es erinnerte mich spontan an eine Stelle bei Herodot, wo dieser von einem gewissen Aristodikos aus dem kleinasiatischen Kyme berichtet, der hier an dieser Stelle eine negative Orakelantwort erhielt: »Darauf«, schreibt Herodot (1, 159), »tat Aristodikos absichtlich folgendes. Er ging im Tempel umher und jagte die Sper-linge und andere Vogelarten, die im Tempel nisteten, hin-aus.« Allerdings zum Unwillen der Orakelpriester. Denn von innen erscholl über die hohe Schwelle eine Stimme:
»Gottlosester der Menschen, was wagst du da zu tun? Meine Schützlinge vertreibst du aus dem Tempel?«

Das Orakelheiligtum hatte keinen anderen Zugang als den Zweisäulen-Saal, wo zwei seitliche Maueröffnungen in zwei Schräggänge mündeten, die mit einer Drehung von 180 Grad in das Adyton führten. Diese beiden Geheimtrep-pen wurden von Wiegand und Knackfuß 1907 in einem erstaunlich guten Erhaltungszustand entdeckt.

Theo Wiegand in einem Brief an seine Frau Marie am 6. Juni 1907: »Ich komme eben von einer sehr schönen Entdeckung im Tempel. Wir sind in das südliche innere Treppenhaus eingedrungen und haben die ganze Marmordecke unverletzt wiedergefunden. Sie ist neun Meter lang, einen Meter breit, und die ganze Fläche ist mit riesigen hochplastischen Mäanderschlangen dekoriert, die noch Reste ihrer gesamten alten Bemalung in rot und blau tragen, an Kymatien Profilleistenl, Innenfeldern und zentralen Rosetten. Du kannst Dir denken, wie mich das erfreut, denn es ist das erste größere Novum über die französische Forschung hinaus und ein wunderhübscher ermutigender Abschluß für die Frühjahrscampagne 1907, die so viele Störungen hatte.«


aus: "Das Geheimnis der Orakel" v. Philipp Vandenberg"
erschienen als Taschenbuch bei Bastei-Lübbe


zurück



Allgemeine Infos | Bodrum | Die Umgebung | Aktivitäten | Angebote | Wissenswertes | Kontakt



© copyright and design by PIXELWORK Bodrum Web Design 2001